Warum gehe ich nach Liberia und organisiere da Fortbildungen für Mathe- und Physiklehrer? Warum grabe ich da keine Brunnen? Warum kaufe ich denen kein Essen? Warum nehme ich nicht ein paar afrikanische Flüchtlinge bei mir in Dossenheim auf? Warum engagiere ich mich nicht mehr gegen Waffenhandel? Warum spende ich mein Geld nicht einer Initiative zur Aufforstung des Regendwalds?
Während viele andere
Hilfsmaßnahmen vor allem die Symptome und Auswirkungen von globaler
Ungerechtigkeit bekämpfen, setzt Bildung bei den Ursachen an und
hilft den Menschen, selbstbestimmt ihre Probleme zu lösen bzw. sich gegen
die Unterdrückungsstrukturen einer neoliberalen Globalisierung wehren zu können. Aber der Reihe nach...
Wir alle sehen täglich,
dass wir in einer Welt sozialer Ungleichheit leben und die meisten
von uns wollen auch etwas dagegen unternehmen. Da steht man nun vor
der Entscheidung, welches der vielen Probleme man zuerst bekämpfen
soll... Welthunger? Rechtsextremismus? Atomkraft? Kapitalismus?
Autos? Krieg? Studiengebühren? Klimawandel? Gentrifizierung?
Massentierhaltung? Lobbyismus? Homophobie? Waldsterben? Oder doch die Asylpolitik
der CDU?
Die meisten Menschen
engagieren sich dann auch auf ihre eigene Art gegen diese Probleme,
aber dabei entstehen wieder zwei neue Konflikte:
Zum einen fragt man
sich natürlich, welches davon das „dringendste“ Problem unserer
Gesellschaft ist und wie soll man dringend überhaupt definieren?
Täglich sterben 36000 Kinder an Unterernährung, während Nazis in
Deutschland täglich nur 0,02 Menschen totprügeln. Also ist
Antifaschismus nicht wichtig? Oder die Langzeitfolgen als Maß der Dringlichkeit:
Studiengebühren führen zu einer Zweiklassengesellschaft in der
Prof. Dr. Tilman Hartwig genug Idioten findet, die für 2,50€
Stundenlohn sein Fahrrad putzen, während der Klimawandel dazu führen
wird, dass Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt und zu Klimaflüchtlingen werden, immer mehr
Tierarten aussterben, der Meeresspiegel ansteigt,... Also lieber
Greenpeace statt Bildungsstreik?
Das zweite Problem ist,
dass Gutmenschen die Bestrebungen anderer Gutmenschen oft schlecht
reden und relativieren: „Das ist ja schon gut, aber die Bekämpfung
des Bürgerkriegs in Syrien wäre wichtiger!“ Das habe ich wirklich
schon so oft mitbekommen und ich muss ehrlich sein, dass ich mich
auch selbst oft dabei erwische. Wenn man einen Tierrechts-Infostand
macht, bekommt man gesagt, dass man sich doch erst mal um die
Menschen kümmern soll, denen es auch schlecht geht. Wenn man eine
Vortragsreihe zu Postwachstum veranstaltet, hört man, dass
Rechtsextremismus das viel dringendere Problem sei und auf der
Antinazidemo bekommt man vorgehalten, dass Speziesismus das
grundlegendere Problem sei... merkt ihr was?
All diese Bestrebungen
sind richtig und ein wichtiger Beitrag zu einer gerechteren Welt.
Niemand muss sich dafür rechtfertigen, wenn er sich heute gerade mal
nicht um die ganz großen Probleme der Welt kümmert und wie schon
gesagt, was sind überhaupt die ganz großen Probleme?
Wenn man schon keine
Priorisierung (die Rechtschreibkorrektur sagt „Proletarisierung“) der Weltprobleme aufstellen kann, dann kann man aber doch mal überlegen, ob es gemeinsame Ursachen für diese verschiedenen
Formen der Ungerechtigkeit und Unterdrückung gibt. Ich erinnere mich
da an lange Abende mit Matteo, viele Gespräche mit Chris oder
ausführliche Diskussionen im Polizeigewahrsam. Der gemeinsame Nenner
als Erklärung für die meisten Probleme war immer ein Mangel an
Bildung!
Nicht, dass die
Menschen dumm sein, sondern es ist viel eher ein Mangel an
Information, fehlende Selbstreflektion, das Misskennen historischer
Tatsachen oder mangelndes Wissen um sich selbst zu helfen. Bildung
ist für mich auch nicht das Auswendiglernen von Daten und Fakten sondern eher
Hilfe zur Selbsthilfe.
Ich gebe zu, dass ich
ein sehr optimistisches Menschenbild zu Grunde lege, denn Bildung
führt bei einzelnen Menschen nicht unbedingt zu ethischem Handeln.
Ich bin mir aber sicher, dass eine selbstreflektierte, aufgeklärte
Gesellschaft anders mit den Problemen umgehen würde und
emanzipatorische Lösungen finden kann.
Das Ideal der Bildung
sollte es sein, Menschen zu kritischem Denken und selbstreflektiertem
Handeln zu erziehen, aber wie schafft man das? Ich kann ja niemandem
kritisch vordenken und hoffen, dass er mir nachdenkt. Und spätestens
in dem Moment, wo ich als Lehrer kurz vor dem Erfolg stehe, wird mein
Schüler vielleicht nicht mehr auf mich hören, meine Autorität
anzweifeln und aus Protest wieder unkritisch denken...
Man kann die Maxime der
Bildung also nicht direkt erreichen, sondern muss über den Umweg der
Allgemeinbildung, das Stärken der musischen Fähigkeiten, die
Förderung der Kreativität und die Schulung des logischen Denkens
sich dem Humboldtschen Bildungsideal nähern:
Damit man akzeptiert, dass die Erde keine Scheibe ist, sollte
man mal in einen Atlas geguckt haben. Damit man erkennen
kann, dass unbegrenztes Wirtschaftswachstum in einer Welt mit
begrenzten Ressourcen nicht funktionieren kann, sollte man sich mal
die Wertetabelle einer Exponentialfunktion bis x=100 ausgerechnet
haben. Damit man sich entschieden
gegen Nazis engagieren kann, sollte man wissen, was zwischen 1933 und
1945 in Deutschland passiert ist. Damit man nicht auf Kreationisten
hereinfällt, sollte man von den Mendelschen Regeln gehört haben.
Damit man keinen monokausalen Erklärungen für den Klimawandel
glaubt, sollte man sich mal das Absorptionsspektrum der Atmosphäre
angucken. Und damit man erkennt, was die FDP für einen Quatsch
erzählt, sollte man eins und eins zusammenzählen können!
In den zwei Wochen in
Liberia werden wir täglich Lehrerfortbildungen anbieten und es gibt
auch schon die ersten 30 Zusagen. Wilfred bespricht vorher mit den
Rektoren, welche Themen wir wiederholen sollen und diese werden wir
dann an 8-9 Nachmittagen und einem Wochenende behandeln. Vor allem
aber will ich den Lehrern erklären, wie wichtig ihr Beruf für die
Kinder, für die Zukunft ihres Landes und damit für unsere gesamte
Gesellschaft ist. Ein ganz wichtiger Punkt der Lehrerfortbildungen
ist nämlich auch die Wertschätzung, die die Lehrer für ihren
Beruf erfahren müssen. Neben dem fachlichen und motivierenden
Aspekt, will ich aber auch zeigen, dass Mathe und Physik Spaß machen
kann und auch durch ganz einfache Tricks und spannende Themen die
Kinder zu begeistern sind. Erinnert ihr euch z.B. noch an das
Stapelproblem (
http://www.pm-magazin.de/a/die-mathematik-des-stapelns ) im 1.
Semester? Oder Bartelmanns Einleitung zur Allgemeinen
Relativitätstheorie, bei der man mit Newtonscher Mechanik und
Einsteins beiden Axiomen schon Lichtablenkung und Rotverschiebung
herleiten kann? Oder die Erklärung schwarzer Löcher über die
Fluchtgeschwindigkeit der Photonen?
Jetzt ist dieser Post
doch wieder länger geworden, als geplant... Aber es würde mich doch
interessieren, was ihr dazu denkt. Kann man viele Probleme wirklich
auf fehlende Bildung zurück führen? Oder ist das vielleicht nur die
Sicht aus dem Elfenbeinturm heraus? Ist der Post vielleicht so lang
geworden, weil ich mich unterbewusst doch dafür rechtfertigen will,
dass ich keine Brunnen grabe? Was ist für euch das am dringendsten zu
lösende Problem der Menschheit? Und wo sind die Schnapspralinen?