Was passiert, wenn ein
globalisierungskritischer Astrophysiker sich mit Wirtschftstheorie
beschäftigt? Er entwickelt sein eigenes Schichtugsmodel für
Gesellschaften und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Aber dazu
noch ein paar Vorbemerkungen...
Ich hatte ja schon
irgendwo erwähnt, dass Liberia das zweitärmste Land der Welt ist.
Aber was bedeutet das überhaupt, wie misst man so was und welches
Land ist denn noch ärmer?
Nun, das ärmste Land der
Welt ist Kongo und der hier zugrunde liegende Indikator ist das
kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf. In meiner
VWL-Vorlesung habe ich gelernt, dass das BIP der Marktwert aller für
den Endverbrauch bestimmten Waren und Dienstleistungen, die in einem
Land in einem bestimmten Zeitabschnitt hergestellt werden, ist. Es
beschreibt also so etwas wie die Produktivität einer
Volkswirtschaft. Die Kaufkraftbereinigung ist deshalb sinnvoll, da
man sich in Liberia für $10 sehr viel mehr Big Macs kaufen kann, als
man dies z.B. in den USA fürs gleiche Geld könnte. Man erstellt
also einen Verbraucherpreisindex, der beschreibt, wie teuer die
Lebenshaltungskosten in einem Land sind und normiert damit das BIP,
damit die Werte international vergleichbarer werden.
Das kaufkrafbereinigte
BIP pro Kopf ist somit aus volkswirtschaftlicher Sicht ein guter
Indikator für die Produktivität eines Landes. Die ersten
offensichtlichen Kritikpunkte an diesem Maß gestehen sich sogar
Volkswirte selbst ein: Dieser Index missachtet unbezahlte Tätigkeiten
wie Hausarbeit, Kindererziehung und Ehrenämter völlig. Außerdem
entgehen ihm Schwarzarbeit und direkt getauschte oder verschenkte
Waren wie z.B. bei der solidarischen Landwirtschaft oder in
Umsonstläden. Aber es gibt noch weitere Kritikpunkte, denen man sich
bewusst werden sollte, bevor man mit seiner Wirtschafts- und
Finanzpolitik blind das BIP steigern will: Jeder Autounfall steigert
das BIP, denn es muss ein neues Auto hergestellt werden, die
Versicherung hat mehr zu tun und auch die Pharmaindustrie freut sich
über höheren Absatz. Umweltverschmutzung und Drogenkonsum steigern
das BIP, da auch hier die Umsätze im Gesundheitssystem angekurbelt
werden...
Oft wird das BIP auch
als Wohlstandsindikator eines Landes herangezogen: Eine
wirtschaftlich starke Nation hat doch alles! Aber ganz so einfach ist
es natürlich nicht. Man kann dem BIP eine gewisse Korrelation zu
Wohlstandindikatoren nicht absprechen, aber in das BIP gehen keine
Zahlen über die Bildung oder den Gesundheitszustand einer
Gesellschaft ein. Das BIP berücksichtigt nicht Unterernährung,
Umweltverschmutzung oder soziale Sicherheit. Kennedys Bruder hat dazu
einmal gesagt: „Das BIP misst alles, außer dem, was das Leben
lebenswert macht.“
Deshalb gibt es viele
andere Indizes und Indikatoren, die auch soziale und ökologische
Aspekte in die Wohlstandsdefinition aufnehmen. Der bekannteste davon
ist wohl der Human Development Index (HDI), der sich aus
Lebenserwartung (beinhaltet Gesundheit, Hygiene, Ernährung), Bildung
und Wirtschaftsleistung zusammensetzt.
Richtig spannend (und
gleichzeitig erschreckend) sind dazu die interaktiven Karten auf
dieser Seite http://www.indexmundi.com/map/
und die „Verzerrte Welt“ Karten von
http://www.monde-diplomatique.de/karten/
oder http://www.worldmapper.org/
Halten wir also einmal
fest: Das BIP (kaufkraftbereinigt und pro Kopf) beschreibt die
Produktivität einer Wirtschaft. Der HDI soll im Folgenden ein
Stellvertreter für einen besseren Wohlstandsindikator sein (obwohl
hier z.B. auch Umweltverschmutzung und soziale Sicherheit nicht
direkt berücksichtigt werden).
Nun heißt es ja immer,
dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht
und es für die unteren Schichten immer schwerer wird, zu einem
gewissen Wohlstand zu gelangen. So weit sind dies auch statistisch
belegbare Fakten, aber die Frage besteht nun darin, wie man diese
Spaltung der Welt in arm und reich verhindern kann. Mit dem konkreten
Vorgehen dabei beschäftigt sich der vorherige Post, aber ich habe
mir eine Analysemethode überlegt, die angibt, ob die Entwicklung
eines Landes denn in die richtige Richtung geht.
Dieser Vergleich kam
mir in der Vorlesung zur stellaren Astrophysik beim Kapitel über
Stabilität von Sternhüllen bzw. über das Konvektionskritierium.
Dabei ist die Frage, wann eine Schichtung des Plasmas im Sterninnern
stabil ist und ab welcher Bedingung an die Dichtegradienten es zu
einer Durchmischung kommt. Dieses Bild der übereinander liegenden
Schichten, die entweder stabil sind und kleine Störungen dieser
Stabilität sofort unterdrücken oder labil übereinander liegen und
eine Durchmischung von unten nach oben möglich machen, hat mich auf
diese Analysemethode gebracht:
Unsere Gesellschaft
kann man sich einfach gesprochen auch als geschichtet vorstellen.
Unten die Armen, oben die Reichen oder eben nach aufsteigendem
Wohlstand von unten nach oben. Erstrebenswert wäre eine
Durchmischung dieser Schichten, so dass alle Menschen ähnliche
ökonomische, ökologische und soziale Lebensbedingungen haben. Wie
sieht nun aber dieses Stabilitätskriterium für unsere Gesellschaft
aus? Im Sterninnern stellt man sich die Frage, wie sich die Dichte
einer Blasmaplase beim Aufstieg relativ zum umgebendem Medium
verändern würde. Bei meiner Analyse ist die Größe nach der
abgeleitet wird also schon mal nicht die radiale Koordinate, sondern
die Zeit und die zu vergleichenden Größen sind nicht die Dichte der
Plasmablase und des umgebenden Mediums, sondern das BIP und der HDI.
Die Grundlegende Frage
ist, ob die Bevölkerung etwas vom Wirtschaftswachstum ihres Landes
abbekommt oder ob die Bevölkerung nur für die wirtschaftliche
Produktivität ihres Landes herhalten muss, ohne dass ihr eigener
Wohlstand steigt. Wenn die Bevölkerung etwas vom wirtschaftlichen
Aufschwung ihres Landes abbekommt, hieße das, dass der HDI schneller
steigen müsste als das BIP. Anderenfalls würden die Menschen der
Wirtschaft dienen und dafür sorgen, dass es der Wirtschaft und nicht
ihnen selbst gut geht. Aber eigentlich sollte die Wirtschaft dem
Menschen dienen und deshalb lautet meine Formeln für eine
nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, die der Bevölkerung
langfristigen Wohlstand ermöglicht:
[(d HDI)/dt]/HDI >
[(d BIP)/dt]/BIP
oder in Worten: Das
relative Wachstum des HDI muss schneller sein als das relative
Wachstum des BIP.
Naja und ihr könnt es
euch denken, aber meine erste Analyse ist erschreckend! Es gibt kein
einziges Land, in dem dieses Kriterium erfüllt ist. Beispielhaft
habe ich das mal für ein paar Länder ausgerechnet, wobei alle
Änderungsraten positiv sind und ich die Werte für 2010 und 2011
genommen habe:
|
Relative Änderung HDI
|
Relative Änderung BIP
|
USA
|
0.22%
|
3.91%
|
Deutschland
|
0.22%
|
5.26%
|
Schweden
|
0.33%
|
6.21%
|
Estland
|
0.36%
|
9.93%
|
Sri Lanka
|
0.72%
|
10.51%
|
Ghana
|
1.48%
|
16.03%
|
Haiti
|
1.10%
|
7.84%
|
Simbabwe
|
3.19%
|
11.66%
|
Liberia
|
1.22%
|
8.66%
|
In diesen Ländern
wächst also die Wirtschaft, ohne dass es der Bevölkerung in
gleichem Maße besser geht. Jetzt mag sich manch Kritiker meiner
Theorie vielleicht denken, dass es für Länder mit hohem Wohlstand
schwierig ist, den Lebensstandard noch weiter zu erhöhen. Aber dann
frage ich mich, warum die Wirtschaft dann noch so krass wachsen
muss, wenn da doch offensichtlich niemand was davon hat?!
Das war nur ein kleiner
Ausflug in die Welt der Volkswirtschaft, der neoliberalen Dogmen vom
Wirtschaftswachstum und der stellaren Astrophysik. Mein
Analysekriterium ist wissenschaftlich vielleicht noch nicht ganz
ausgereift (und bestimmt hatte vor mir auch schon mal jemand diese
Idee), aber es zeigt doch sehr deutlich, in welche Richtung sich
unsere Wirtschaft entwickelt.
Natürlich möchte ich
noch anmerken, dass ich mich hier nicht für Wirtschaftswachstum in
irgendeiner Form ausspreche. Wir müssen langfristig natürlich zu
einer Wirtschaftsform gelangen, die zu ihrem Selbsterhalt nicht immer
mehr Wachstum braucht. Aber das ist eine andere Geschichte...
"..frage ich mich, warum die Wirtschaft dann noch so krass wachsen muss, wenn da doch offensichtlich niemand was davon hat?!"
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Wachstum macht Ungleichverteilung erträglich. Ohne Wachstum steht der Kapitalismus ohne Hosen da.